Zwischen Gesetz und Ordnung
von Martin Kraft, Kunstkritiker und -publizist, Zürich

Reto Casaova erinnert sich, wie er vor zwanzig Jahren ganz plötzlich und ohne konkreten Anlass mit dem Malen begonnen hat und neben dem Brotberuf etwas ganz Anderes versuchte. Und grundsätzlich ist für ihn seine Kunst immer dies geblieben: ein Ausbruch aus dem Alltäglichen, eine Gegenwelt zu ihm. In den ersten Jahren betont farbenfroh, wurden seine Bilder später dunkler bis düster, um sich dann in letzter Zeit erneut aufzuhellen: natürlich keine gradlinige Entwicklung, sondern eine mit zahlreichen Seitenwegen und Zwischentönen.

Lebhaft erinnert sich der Künstler auch an jene Zufallsbegegnung, die sich dann im Nachhinein als entscheidender Schaffensimpuls erwies: die Wiederentdeckung des in der Schulzeit benützten und seither in Vergessenheit geratenen Farbkastens. Und mit ihm zeigt sich der überraschende Beginn aus dem Nichts heraus nur noch bedingt als ein solcher, erscheint auch als ein wohl unbewusstes Anknüpfen an die Malversuche als Jugendlicher - und das Erwachen einer lange brachliegenden Begabung, eines Könnens, das bei diesem Autodidakten offenbar einfach schon da war. Auch heute malt Reto Casanova jedenfalls mit Wasserfarben, aber natürlich mit einem ganz anderen Anspruch - und einer ganz eigenen Technik. Er trägt die Acrylfarbe mit dem Pinsel oder dem Spachtel auf das Papier oder auf die Leinwand auf und verdünnt sie, reduziert sie immer wieder mit Wasser, legt so eine dünne Schicht über die andere, zehn bis fünfzig insgesamt, bis das Werk «gefällt», vollendet ist. Den richtigen Augenblick dazu muss er intuitiv erkennen, um nicht weiterzumalen. Denn bei dieser Technik lässt sich nichts rückgängig machen, und das Bild ist verloren.

Es gibt in diesen Bildern nichts Gegenständliches, keinen Bezug zur sichtbaren Wirklichkeit, der über die Assoziationen hinausgeht, die sie bei den Betrachtenden erwecken mögen. Doch sie sind von einer polaren Spannung erfüllt. Die Nähe zum abstrakten Expressionismus war in manchen früheren Werken noch augenfälliger; diejenige zu den Konkreten aber bestimmt den Bildaufbau und damit den Beginn des Schaffensprozesses. Die Fläche wird zunächst aufgeteilt und dadurch auch dynamisiert mit einer Rechteckskomposition, die dann unter der Malerei, vor allem wenn diese immer wieder zur Monochromie tendiert, weitgehend verschwindet, zuweilen mehr erahnbar als wirklich sichtbar bleibt. Ein in der heutigen Kunst (und Wirklichkeit) allgegenwärtiger Wertgegensatz wird damit thematisiert, derjenige zwischen Gesetz und Ordnung, verkörpert in der strengen Geometrie, und individueller Freiheit, welche der Maler mit seiner Handschrift ins Bild einbringt.

Aber es ist noch ein anderer, kunstimmanenter Gegensatz, den Reto Casanova malend reflektiert, derjenige zwischen color und paint. Er tut dies am auffälligsten dort, wo er auf zwei benachbarte Flächen dieselbe Farbmaterie aufträgt und dabei, durch die andere Art des Auftrags, doch zwei ganz unterschiedliche Farbwirkungen erzielt. Farbe erscheint also gleichzeitig als das, was der Künstler benützt, wie als das, was er erschafft. Gerade die weitgehend monochromen Kompositionen verdanken diesen subtil differenzierten Oberflächenwirkungen ihre eigene Spannung.

Wenn hier das Wesentliche, das Charakteristische im Schaffen von Reto Casanova festgehalten werden soll, muss zugleich betont werden dass die dabei erkennbaren Regeln nicht ohne Abweichung sind. So gradlinig der Künstler an sich seinen Weg verfolgt, so klar seine Vorgaben sind, bleibt er doch immer offen für Experimente, für spontane, spielerische Einfälle. So verwendet er als Malgrund gerne auch Zigarrenschachteln und Ähnliches, was das Bild zum Bildobjekt werden lässt und der Farbe eine ganz andere Präsenz verleiht. Oder er fügt in seine abstrakten Kompositionen Buchstaben ein, die aber geometrische Zeichen bleiben, keineswegs auf Sprachreflexion oder gar Inhaltliches zielen. Und selbst Farbresten, farbiger Abfall gewissermassen, können zu malerischen Miniaturen werden. Dies alles erscheint eher atypisch und ist doch wesentlich für einen Künstler, der sich dem vielleicht schicksalshaften Ein- und Zufall, wie er ihn einst zu seinem Tun führte, auch heute nicht verschliesst.



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